In dieser Ausgabe werfen wir erneut einen Blick weit hinter die Landesgrenzen: Wie hat der Krieg die Landwirtschaft in der Ukraine verändert? Vitalii Lysyi, ukrainischer Mitarbeiter der Norddeutschen Pflanzenzucht, berichtet im Gespräch mit Dr. Anke Boenisch, Redaktion praxisnah, von den aktuellen Herausforderungen in der Landwirtschaft.
praxisnah: Die Ukraine ist ein sehr großes Agrar- und Flächenland, oft als „Kornkammer der Welt“ bezeichnet. In welchen Regionen wird am intensivsten Ackerbau betrieben und was sind die wichtigsten Kulturarten?
Vitalii Lysyi: In fast allen Regionen der Ukraine wird intensiver Ackerbau betrieben. Die wichtigsten Ackerkulturen sind Sonnenblume, Winterweizen, Mais, Winterraps, Soja. Von der Bedeutung her landesweit betrachtet in dieser Reihenfolge.
Landwirtschaft in der Ukraine: große Betriebsflächen, keine staatlichen Förderungen, Exportland
Wie groß sind die ukrainischen Betriebe und wie sind sie organisiert?
In der Ukraine gibt es ca. 40.000 landwirtschaftliche Betriebe, 50 % davon bearbeiten bis 100 Hektar, was insgesamt lediglich ca. 5 % der Ackerfläche ausmacht. Die weiteren 50 % bewirtschaften zwischen 100 und 510.000 Hektar in Holdings. 2013 – vor Beginn des Krieges – waren es ca. 32 Millionen Hektar landwirtschaftliche Nutzfläche. Dann begann der Krieg und die Krimgebiete sowie der Donbass fielen weg. Schätzungen gehen im Moment von 19–22 Millionen Hektar aus.
Erhalten die Betriebe in der Ukraine Formen von staatlicher Unterstützung?
Nein, eigentlich gar nicht. Es gab einige Jahre lang Zuschüsse beim Kauf von in der Ukraine produzierter Landtechnik. Aber die Form von finanzieller Unterstützung wie in Deutschland kennen wir hier gar nicht.
Wie erfolgt die Vermarktung der Ernte? Wie sah das z. B. für Weizen vor dem Krieg aus und was hat sich hier durch den Krieg verändert?
Vor dem Krieg wurde der größte Teil des Exportes – ungefähr 95 % – durch internationale Trader und teilweise große Holdings organisiert. Heutzutage exportieren die internationalen Trader und Holdings bis zu 50 %, der Rest wird durch Zwischenhändler und landwirtschaftliche Betriebe exportiert. Diese haben direkte Kontakte zu den Zwischenhändlern in der EU. Die meisten Betriebe haben mittlerweile die Möglichkeit, einen Teil der Konsumware an Getreide, Leguminosen und Sonnenblumen für längere Zeit bei sich zwischenzulagern, um von August bis Juni zu verkaufen. Wir reden hier von einem Gesamtvolumen von ca. 50 Mio. Tonnen. Für Raps gilt das aber nicht, weil für die längere Lagerung spezifische Bedingungen erforderlich sind. Deswegen erfolgt der Verkauf von Raps meistens von Juli bis Oktober. Die Sonnenblume wird zu 90 % lokal verarbeitet.
Der Gesamtexport vor dem Krieg lief zu mehr als 95 % über den Seeweg. Heutzutage sind das noch 50 %, 30 % werden über die Donau verschifft und 20 % fließen über die Eisenbahn und per Lkw Richtung Westen.
Wie hoch war das Betriebseinkommen eines durchschnittlichen Ackerbaubetriebes vor dem Krieg und wie sieht das aktuell aus?
Je nach Kulturart und Region lagen die Deckungsbeiträge vor dem Krieg zwischen 300–1.000 EUR/ha. Davon sind wir im Moment meilenweit entfernt! Aktuell besteht das Hauptziel eines Betriebes darin, den Betrieb und die Ackerfläche zu erhalten – und zu überleben. Die Deckungsbeiträge sind teilweise negativ bis knapp im Plus.
Muss die ukrainische Landwirtschaft sich jetzt neu organisieren?
Wie hoch ist der Verlust an landwirtschaftlicher Fläche durch den Krieg?
Die Ackerfläche, die unter Besetzung in der Nähe der Front liegt bzw. vermint ist, beträgt 20–23 %. Die Betriebe bewirtschaften meistens nicht die Fläche dicht an der Landesgrenze bzw. Front, denn dort werden Mensch und Technik sehr oft beschossen.
Hat sich auch das Spektrum der Kulturarten verändert? Sind Fruchtfolgeplanungen überhaupt noch möglich?
Die Preise für Getreide sind in den Keller gegangen, die Transportkosten sind explodiert. Das wirkt sich auch auf die Fruchtfolgen aus. Die meisten Betriebe haben aktuell eine Fruchtfolge mit Schwerpunkt Ölsaaten: Soja–Winterweizen–Winterraps–Sonnenblume.
Warum sind denn die Preise so gefallen?
Dadurch, dass der Seeweg nicht mehr in dem Umfang wie früher zur Verfügung steht – einige Häfen sind immer noch dicht –, mussten andere Möglichkeiten erschlossen werden. Jetzt wird oft über den Seeweg von ukrainischen Häfen und die Donau bis in einen Hafentransportiert. Dort wird die Ware umgeladen, um dann über den Seeweg weiter transportiert zu werden. Ähnlich ist es bei Zug und Lkw. Das macht das Ganze natürlich zeitaufwendiger und teurer. Deswegen müssen ukrainische Produzenten nach Lösungen suchen. Etliche haben simple Lagerhallen für Getreide gebaut oder das Getreide wird in Schläuchen gelagert. Jetzt ist viel Ware im Angebot und als Folge davon liegen die Preise für Getreide und Ölfrüchte derzeit 50–120 EUR/t unter dem Weltmarktniveau – abhängig von Kulturart und Logistikaufwand!
Ich glaube aber nicht, dass das ukrainische Getreide, das nach Westen exportiert wird, dort flächendeckend einen relevanten Einfluss auf die Marktpreise hat. Der Weltmarkt hat den größten Einfluss, aber die internationalen Getreidehändler kaufen hier billig ein.
Viele Männer verteidigen beim Militär ihr Land, viele Familien und damit auch weibliche Arbeitskräfte sind geflohen. Wie kommen die landwirtschaftlichen Betriebe mit der Personalnot zurecht?
Das ist ein Problem und einige Betriebe versuchen, ihre Mitarbeiter vom Wehrdienst freistellen zu lassen. Ich kenne kleine und mittlere Betriebe, wo der Eigentümer selbst zusammen mit nur einem Mechanisator alle Feldarbeiten erledigen muss. Eine ähnliche Situation gibt es auch in einigen Holdings, wo nur 50 % der Mechanisatoren geblieben sind und viel Technik stillsteht. Das reicht dann nur für die notwendigsten Arbeiten.
Sind noch alle Betriebsmittel verfügbar?
Am Anfang des Krieges gab es Probleme mit Diesel. Aktuell gibt es keine Probleme mit Saatgut, Pflanzenschutzmittel und Diesel, aber viele Betriebe kaufen überwiegend aus dem billigeren Preissegment bzw. Generika bei Pflanzenschutzmitteln. Aber es gibt einen Mangel an Düngemitteln, wobei viele Betriebe daran stark sparen. In einigen Regionen wird auf Stickstoff ganz verzichtet.
Rechnen Sie dann mit sinkenden Erträgen?
Die letzten zwei Jahre waren ertragreich, zum Teil dank günstiger Witterungsbedingungen. In 2022 wurden ca. 74 Mio. t Getreide und Ölfrüchte geerntet und in 2023 ca. 79 Mio. t. Die Prognose für 2024 liegt bei 65–70 Mio. Tonnen.
Wir hoffen alle, dass der Krieg bald endet und die ukrainische Landwirtschaft wieder in den „Normalmodus“ umschalten kann. Wird es ein – „so wie vorher“ für die ukrainische Landwirtschaft überhaupt geben?
Die schrittweise Rückkehr zur üblichen Fruchtfolge und Gesamtproduktion bei Getreide und Ölfrüchten auf das Niveau von 2021 (106 Mio. t) wird erst dann passieren, wenn die Hafeninfrastruktur wieder aufgebaut wird und die Preise für Konsumware wieder dem Weltmarkt entsprechen. Das setzt auch die Rückführung der im Moment besetzten Gebiete voraus. Die Flächen müssen dann entmint werden und Infrastruktur und Betriebe müssen wieder aufgebaut werden. Das dauert also noch!
Schnell gelesen (Kurzfassung):
Vitalii Lysyi berichten von den kriegsbedingten Veränderungen im Ackerbau seines Landes: Von Personalverlusten, Flächenverlusten bis hin zu veränderten Fruchtfolgen und Marktstrukturen. Und er berichtet darüber, was nach dem Ende des Krieges passieren muss, um die ukrainische Landwirtschaft wieder zu alter Stärke zurückzuführen.